Predigt zum 27.06.2021
von unserem Pfarrer Christian Vornewald
Aus dem heiligen Evangelium nach Markus.
In jener Zeit
fuhr Jesus im Boot
an das andere Ufer des Sees von Galiläa hinüber
und eine große Menschenmenge versammelte sich um ihn.
Während er noch am See war,
kam einer der Synagogenvorsteher namens Jaírus zu ihm.
Als er Jesus sah,
fiel er ihm zu Füßen
und flehte ihn um Hilfe an;
er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben.
Komm und leg ihr die Hände auf,
damit sie geheilt wird und am Leben bleibt!
Da ging Jesus mit ihm.
Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn.
Darunter war eine Frau,
die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt.
Sie war von vielen Ärzten behandelt worden
und hatte dabei sehr zu leiden;
ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben,
aber es hatte ihr nichts genutzt,
sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden.
Sie hatte von Jesus gehört.
Nun drängte sie sich in der Menge von hinten heran –
und berührte sein Gewand.
Denn sie sagte sich:
Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.
Und sofort versiegte die Quelle des Blutes
und sie spürte in ihrem Leib,
dass sie von ihrem Leiden geheilt war.
Im selben Augenblick fühlte Jesus,
dass eine Kraft von ihm ausströmte,
und er wandte sich in dem Gedränge um
und fragte: Wer hat mein Gewand berührt?
Seine Jünger sagten zu ihm:
Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen,
und da fragst du: Wer hat mich berührt?
Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte.
Da kam die Frau,
zitternd vor Furcht,
weil sie wusste, was mit ihr geschehen war;
sie fiel vor ihm nieder
und sagte ihm die ganze Wahrheit.
Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter,
dein Glaube hat dich gerettet.
Geh in Frieden!
Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.
Während Jesus noch redete,
kamen Leute, die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten,
und sagten zu Jaírus: Deine Tochter ist gestorben.
Warum bemühst du den Meister noch länger?
Jesus, der diese Worte gehört hatte,
sagte zu dem Synagogenvorsteher: Fürchte dich nicht!
Glaube nur!
Und er ließ keinen mitkommen
außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus.
Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers.
Als Jesus den Tumult sah
und wie sie heftig weinten und klagten,
trat er ein
und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr?
Das Kind ist nicht gestorben,
es schläft nur.
Da lachten sie ihn aus.
Er aber warf alle hinaus
und nahm den Vater des Kindes und die Mutter
und die, die mit ihm waren,
und ging in den Raum, in dem das Kind lag.
Er fasste das Kind an der Hand
und sagte zu ihm: Talíta kum!,
das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf!
Sofort stand das Mädchen auf
und ging umher.
Es war zwölf Jahre alt.
Die Leute waren ganz fassungslos vor Entsetzen.
Doch er schärfte ihnen ein,
niemand dürfe etwas davon erfahren;
dann sagte er,
man solle dem Mädchen etwas zu essen geben.
Evangelium unseres Herrn Jesus Christus
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Wie sensibel ist die Haut. Eine Berührung kann so groß und so mächtig sein, so viel bewirken oder leider auch zerstören. Die Hauptkontaktaufnahme, so habe ich mal gelesen, geschieht über die Haut, nicht über die Sprache, also Mund und Ohren, über die Augen oder auch die Nase. Wie wichtig und lebensnotwendig das ist, haben wir im letzten Jahr erfahren. Das Christentum ist keine rein geistige Religion, Jesus ließ sich berühren, durch die Berührung mit ihm wurden Menschen geheilt. Er wird uns beschrieben als ein Gott zum Anfassen. Die leidende Frau sagte sich: Wenn ich nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. Und wie wunderbar ist es, dass sie in ihrem Leib spürte, dass sie von ihrem Leiden geheilt wurde.
Ich kenne einige Pfarrer, die von sich selber sagen: ich fasse kein Kind mehr an. Natürlich, sie haben gute allseits bekannte Gründe dafür. Dennoch finde ich das befremdend: Wie soll Seelsorge möglich sein, wenn Seele dabei doch die innere Personmitte eines Menschen meint, wenn in Jesus der lebendige Gott Kontakt aufgenommen hat mit uns und zwar ganz menschlich, mit Augen, Mund, mit Haut und Haaren. Es ist doch etwas großes und wirklich schönes, wenn ein Kind Nähe sucht und sich anvertraut. Es ist schon viele Jahre her, ich hatte Geburtstag an einem Sonntag. Und natürlich gab es eine Sonntagsmesse. Als ich vor der Messe durch die Kirche lief, kam die wohl fünfjährige Lea auf mich zu. Sie stellte sich vor mir auf und sagte: Bück dich mal! Ich ging zu ihr herunter auf Augenhöhe. Ehe ich mich versah, wurde ich liebevoll umarmt und dann sagte sie mir ins Ohr: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Unser Spiritual im Priesterseminar sagte, dass Seelsorge bedeutet, zugänglich zu sein, das Liebe schenken auch bedeutet, sich lieben zu lassen. Wenn es echt ist, hat das was mit Demut zu tun. Und ist etwas sehr sensibles. Papst Franziskus hat in der Predigt bei seiner Einführung vom Mut zur Zärtlichkeit gesprochen. Es wäre doch ganz schlimm, wenn er das nicht mehr sagen würde.
Ich habe Sorgen, dass die Krise der Kirche viel grundlegender ist: Die Kontaktquellen zu Gott und zueinander sind verschlossen, Berührung braucht unbefangenes Vertrauen, arglose ganz menschliche Zuwendung. Wenn hier grundlegend etwas krank ist, was dann? Ich habe eine Befürchtung: War das vielleicht schon lange zuvor so, ist es vielleicht sogar die Ursache von so viel schrecklichen Verletzungen, die Kindern zugefügt wurden? Ich habe im Priesterseminar eine Zeit lang die Bibliothek geführt, in der wir aus dem Nachlass von Pfarrern Bücher bekommen konnten. Die Schriften zur Jungen- und Mädchenerziehung aus der ersten Hälfte des vorigen Jhds. lassen einen erschüttert zurück. So viel verbotenes, so viel verklemmtes, einsam machendes, zwanghaftes, das schlechte Gewissen wurde systematisch aufgebaut und am besten so, dass es ja nie aufhört. Vor allem Mädchen hatten viel zu lernen und zu leiden …
Kommen wir zurück zu der Frau, die seit zwölf Jahren an Blutfluss litt, die durch die Berührung auch nur des Gewandes Jesu geheilt wurde. Es wird erzählt, wie sie von vielen Ärzten behandelt worden war und dass sie dabei sehr zu leiden hatte. Sie hatte ihr ganzes Vermögen ausgegeben, aber es war nur schlimmer geworden. Als Mann ist es nicht leicht, sich darin einzufühlen. Aber ich habe einmal einer Frau zugehört, als sie über diese Erzählung sprach. Ihr war aufgefallen, dass die beiden Erzählungen, die Erzählung über diese Frau ist ja eingeschoben in die andere Erzählung eines Mädchens, das von den Toten auferweckt wurde, eigentlich eine Erzählung oder eine Botschaft sind. Sie meinte, dass es dieselbe Frau ist. Mich hat das fasziniert. Denn das Mädchen, die Tochter des Synagogenvorstehers, stirbt in dem Alter, in dem die periodischen Blutungen einer Frau beginnen. Es sei so, so führte sie aus, dass die eine Frau, die von ihrem Leiden geheilt wurde, von Jesus vom Sterben zum Leben geführt wurde. Du sollst leben! Du sollst das Glück finden, Mutter zu werden, Du sollst keinen Grund haben, Dich zu schämen, Du sollst frei sein, Du sollst als Frau leben. Du sollst aus Deinem strömenden Sterben befreit sein. Das alles hatte für sie mit dem aufhörenden Blutfluss zu tun. Ich möchte es lediglich unter die Worte der Lesung stellen, die ja das jeweilige Evangelium illustrieren. Da heißt es: „Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt.“ Wenn die beiden Frauen eine Person sind, dann ist es berührend, welche Bedeutung dem Ereignis beigemessen wird. Schließlich werden Petrus, Jakobus und Johannes mitgenommen, die bei ganz entscheidenden Begebenheiten dabei sind wie etwa auf dem Taborberg oder dem Garten Getsemani. Und das bei einer Frau, die in ihrer Umgebung als gestraft von Gott angesehen wurde, aufgrund ihrer dauernden Unreinheit vermutlich ausgestoßen war. Jesus, so heißt es bei dem toten Mädchen, fasste sie an der Hand und sagte zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf. Früher hat mich gestört, dass die Frau nicht in ihrer Anonymität bleiben darf. Stattdessen fragte Jesus, wer sein Gewand berührt hat. Sie muss nicht in ihrer Scham bleiben, sie soll zu dem stehen, was geschehen ist. Es heißt: Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Sie muss es sagen, aber eigentlich darf sie darüber reden. Man hört den anderen Satz aus dem Johannesevangelium: Die Wahrheit wird euch frei machen. Natürlich spielt auch eine Rolle mit, dass es ihr als Frau verboten war, den Mann Jesus zu berühren. Aber Jesus nimmt es als das, was es in Wahrheit ist: Nichts anderes als Glauben, als Sehnsucht zu leben. Nach den alten Mystikern gibt es zwei Gemütszustände oder Haltungen, in denen ein Mensch sich Gott wirklich öffnen kann: Sehnsucht und Verzweiflung. Er aber sagte zu ihr: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.“ Ja, es wird deutlich, dass es nichts gibt und dass sie nichts getan hat, wofür sie sich schämen müsste. Alles ist dem erlaubt, der glaubt! Und allein das zählt!
Noch einmal zu dem, was eine Frau über diese Erzählung ausgeführt hat. Sie tat es bei einer Fortbildung über sexuellen Missbrauch an Kindern und brachte das Geschick dieser Frau in Zusammenhang mit den Kindern, denen schreckliches Leid zugefügt wurde. Wie sensibel muss es sein, dass neu Vertrauen aufgebaut werden kann, wie diese Frau in ihrem Leid und ihrem Wunsch und ihrer Not ernstgenommen wird, so ist es an uns, Menschen zuzuhören, sie anzunehmen, sie mit ihren Gefühlen zu respektieren. Auch wenn es keinen Erfolg hat, oder anders, es sich nicht so entwickelt wie wir vielleicht meinen, dass es werden müsse. Und Jesus wird jede und jeden einzelnen als den wichtigsten sehen und Petrus, Jakobus und Johannes mitnehmen und seine Hand ausstrecken: Talita kum!