Predigt zum 13.09.2020
von unserem Pfarrer Vornewald
Wie oft muss ich vergeben, fragt Petrus, siebenmal? Auf den ersten Blick würde ich sagen: ganz schön großzügig. Wenn ich auf die Episode zuvor schaue, die am letzten Sonntag unser Evangelium war, liegt es nahe, dass es sich bei der Schuld um ein und dasselbe handelt. Da hatte sich nämlich jemand veründitg und weder unter vier Augen, noch im Beisein von Zeugen, noch auf die Gemeinde gehört und dann heißt es, er solle für dich wie ein Heide oder ein Zöllner sein. Doch eine Unterscheidung ist wichtig: Das bedeutet nicht, dass ich ihm nichtvergebe, sondern besagt, dass er durch sein Verhalten seinen Willen zur Zugehörigkeit unserer Gemeinschaft widerrufen hat. Nicht, dass die Jünger nun Groll gegen ihn haben, sondern er zeigt mit seinem Verhalten, dass er nicht Teil des Ganzen sein will. Oder anders herum: So, wie seine Haltung jetzt ist, ist er gar nicht in der Lage, dazu zu gehören. Die Heiden und die Zöllner die Jesus nennt, waren Leute, die ausgeschlossen waren (aus der Synagoge). Was da zunächst großzügig klingt, siebenmal, ist vielleicht einfach nur nicht echt. Denn wennich vergeben habe, wieso soll ich es nach ein paar mal widerrufen. Nur weil der andere es nicht einsieht. Ändert das was an meiner Haltung zu ihm? Ich hätte vielleicht einen neuen Grund zu vergeben. Aber vergeben ist vergeben. Das wird klar durch die Antwort, die Jesus gibt: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal. Vielleicht geht es Ihnen so wie mir: Manschluckt und sagt: Kann ich das? Das Gleichnis, das Jesus dann erzählt, gibt eine Spur, auf dieman ohne weiteres nicht kommt. Er macht eine Rechnung auf: Ein Denar war ein Bruchteil von einem Talent. Dem Mann sind 10000 Talente Schuld geschenkt worden von seinem Herrn; bei der Schuld, die er dann eintreibt, handelt es sich hingegen nur um 100 Denare. Das ist völlig unverhältnismäßig. Mich beeindruckt das! Wer ist dieser Herr, der ihm die ganze Schuld schenkt? Und was bedeutet Vergebung? Er ist unglaublich großzügig, dieser Herr, soviel sieht man auf den ersten Blick. Er rechnet nichts nach, er schenkt alles, die ganze Schuld. Die ganz normale Antwort wäre doch, dass sich der so Beschenkte davon anstecken lässt und genauso handelt. Das scheint aber nicht zu funktionieren. Jedenfalls ist es nicht selbstverständlich. Vielleicht liegt der Schlüssel auch darin, dass er es nicht richtig wahrgenommen hat, was ihm da geschenkt wurde. Es bleibt offen. Eins ist klar, je größer der Nachlass der eigenen Schuld ist, desto schlimmer wird sein Verhalten dem anderen gegenüber. Also ist es wohl sehr wesentlich, diesen Herrn näher zu betrachten und sich klar zu machen, was er da tut, was sein Motiv sein könnte! „Der Herr hatte Mitleid mit dem Knecht“, heißt es in dem Gleichnis. Mitleid hat einen eigenen Beigeschmack, man will das nicht. Ich brauche kein Mitleid, sagen manche Leute. Wenn dieser Satz im Evangelium in Bezug auf Jesus teh, dann meint es etwas rundum positives: Da ist jemand, der sich ehrlich in die Situation einfühlt und danach handelt. Das, was hier mit Mitleid übertragen wird, meint eine einfühlsame Haltung der Liebe. Und dann schenkt er eineunglaubliche Summe. Natürlich haben wir sofort die Intuition, dass hier in dem Gleichnis Gott gemeint ist. Gott, der uns tief liebt, der uns befreit, der will, dass wir leben, Gott, der nicht rechnet, Gott, der uns mit Liebe überschüttet. So reich beschenkt zu werden, löst eine tiefe Freude aus. Da meint es jemand wirklich gut mit mir. Da zeigt jemand nachdrücklich, dass ich ihm unendlich viel wert bin. Eine andere Erzählung Jesu kommt mir in den Sinn: Da kommt der Sohn wieder nach Hause, er hat alles verprasst und ist runtergekommen, und der Vater nimmt ihn mit allem wieder auf, läuft ihm entgegen, nimmt ihn in den Arm und steckt ihm den Ring der Sohnschaft an. So ist Gott! Was für ein Glück! Vielleicht war es sogar im Nachhinein irgendwie gut, dass es so passiert ist. Denn so nimmt er auf wunderbare Weise wahr, was für einen Vater er hat. Das hat der andere Sohn noch nicht wahrgenommen! Ist das das richtige Bild Gottes? So beschreibt ihn jedenfalls Jesus. Bei beiden Erzählungen geht es um eine Seite der Liebe, die vielleicht die schwierigste und die schönste ist: Vergebung! Wer es erfahren hat, weiß was gemeint ist. Es bedeutet so etwas wie noch tiefer und grundlegender geliebt zu sein als ich mich selber mögen kann. Denn für begangene Schuld, wenn ich ehrlich wahrnehme, was ich gemacht oder nicht gemacht habe, vielleicht verbunden mit Konsequenzen für andere, kann ich mich nicht mögen. Ausreden oder Schönreden macht es nur schlimmer. Wirkliche Schuld ist immer schlimm, weil es dabeium die Beziehung zu anderen geht. Und um so schlimmer, je mehr ich mit dem anderen in Verbindung bin. Jemand, der mich sehr mochte, hat mir mal einfach nur in die Augen gesehen, da wusste ich, was ich getan hatte. Und die schlimmste Schuld ist das, was ich an Beziehung und Vertrauen zerstört habe. Gerade Kindern gegenüber ist das so. Böses kann wirklich dem anderen großen Schaden zufügen, es zerstört das Selbstbewusstsein, es verkrümmt die Seele, die Botschaft der Verachtung, die damit einhergeht, richtet wirklich Schaden an. Aber es richtet auch Schaden an bei dem Menschen, der schuldig geworden ist. Es nimmt auch mir das positive Selbstbewusstsein, die Selbstachtung. Ich rutsche in etwas hinein. Was ich mal schlimm fand, wird mir zur Gewohnheit. Ich werde taub für die innere Stimme in mir. In einem abgründigen Buch, dem Tagebuch eines Landpfarrers von Georges Bernanos, habe ich den Satz gelesen: Es ist leichter als man denkt, sich selber zu hassen. Welch ein Geschenk kann da Vergebung sein. Denn sie schenkt die Selbstachtung zurück, unverdient, ohne Hintergedanken. Es ist die Erfahrung von großer Liebe und heilt die Verkrümmungen in ein neues Atmen der Seele. Die Seele ist frei und atmet reine Luft. An einer Stelle des Evangeliums wird diese Einsicht beschrieben: „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben“, sagt Jesus über die Sünderin, „darum zeigt sie so viel Liebe“. Wer noch nie wirklich gesündigt hat, könnte jetzt neidisch werden. Und es stimmt: Es gibt so etwas wie die Trägheit und die menschliche Kälte der Guten. Da gibt es nur einen Ausweg: Wenn ich mir klar mache, dass all meine Tugend nicht mein Verdienst ist, sondern Ausdruck und Spur derselben unverdienten Liebe, mit der auch ich unendlich beschenkt bin. Und was ist mit dem, was andere mir getan haben? Die Lüge, die Gewalt, die Verachtung, dieich gespürt habe, und die sich ausgewirkt haben in mir, die Verkrümmungen, die mir den Mutund den aufrechten Gang genommen haben, die vermutlich dafür gesorgt haben, dass ich selber schuldig geworden bin. Opfer werden fast zwangsläufig zu Tätern … Wenn man es zu Ende denkt oder besser zu Ende fühlt, dann gelangt man zu der Erkenntnis: Wirklich überwinden kann ich das Böse, dass man mir angetan hat, nur, wenn ich sie vergebe. Denn nur dann verliert das Böse seine Macht in mir! Dafür braucht es die Rechnung, die Jesus aufmacht in seinem Gleichnis, dass 10000 Talente viel mehr sind als 100 Denare. Und es gehtnicht darum, dass 100 Denare so wenig sind, dass ich das verharmlose, was jemand mir angetan hat! Es geht darum, dass 10000 Talente sehr sehr groß sind. Und die 10000 Talente besagen auch, dass er mir dabei hilft, wenn ich es nur will, wenn ich den kleinen Finger gebe. Der Satz von Bernanos ist der erste des allerletzten Abschnitts des Buchs. „Es ist leichter als man glaubt, sich selber zu hassen.“ Es geht weiter mit den Worten: „Die Gnade besteht darin, dass man sich vergisst. Wenn aber aller Stolz in uns gestroben ist, dann wäre die Gnade der Gnaden, sich demütig selbst zu lieben als irgendeines der leidenden Glieder Christi.“