Predigt zum 21.06.2020
von unserem Pfarrer Vornewald
Es war bei der Fahrschule während meines Studiums in Paderborn. Der Fahrlehrer war der Vater eines meiner Mitstudenten. Ich saß hinten im Auto, während ein Mann mit türkischer Herkunft noch seine Fahrstunde hatte. Der Fahrlehrer war offensichtlich ein Choleriker. In einer Tour brüllte er seinen Fahrschüler an. Es war eine solche Agressivität in der Fahrzeugkabine, dass ich wie gelähmt war. Dass er so mit dem Mann umging, hatte wohl auch damit zu tun, dass der Mann Ausländer war. Sein Benehmen schien völlig normal zu sein für den Fahrlehrer. Ich bin heute noch froh, dass ich es geschafft habe, ein paar Worte zu sagen. „Sie dürfen den Mann nicht duzen!“ Mehr habe ich nicht herausbekommen.
„Fürchtet euch nicht vor den Menschen!“ So beginnt heute das Evangelium. Keine Angst zu haben, mutig zu sein, im Moment ist das mal wieder in aller Munde. Bei der Diskussion um alltäglichen Rassismus wird das gefordert. Und in dieser Woche hat der Prozess gegen den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke begonnen. Der hatte sich für die Rechte von Flüchtlingen eingesetzt, mehrmals hatte er Morddrohungen bekommen. Mach deinen Mund auf, schreite ein. Lass Dich nicht einschüchtern. Wenn das mal so einfach wäre.
Zunächst mal ist es normal und gut, wenn wir Ängste haben. Denn die Fähigkeit zur Angst ist eine sehr positive Eigenschaft. Sie ruft Erinnerungen in uns wach, wo wir schmerzhafte, schlimme Erfahrungen machen mussten und bewahrt uns davor, dass es nochmals passiert. Gott sei Dank gibt es das! Das berühmte Beispiel mit der Hand auf der heißen Herdplatte spricht Bände. So lernen wir, dass es besser ist, nicht drauf zu packen und sind so beschützt vor schlimmen Schmerzen und Brandblasen. Wer nicht hören will, muss fühlen, hat die eigene Mutter gesagt, wenn es doch passiert war, vielleicht auch ein bisschen beleidigt, weil der Junge ihrem Rat nicht gefolgt war.
Angst zu haben, ist gut und normal. Bloß wovor und vor wem, das ist auch ein Stück weit uns überlassen. Wir können uns überlegen, was für uns schlimmer ist. Das geht in den meisten Fällen natürlich nicht in einer vernünftigen Güterabwägung, sondern ist das intuitive Tun nach dem Maß, was von mir als größer und schwerwiegender empfunden wird. Als die Apostel Petrus und Johannes vor dem hohen Rat stehen und ihnen unter Drohungen verboten wird, weiter von Jesus zu predigen, da sagen sie: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Vor dem Hohen Rat, mit Drohgebärde, ganz schön mutig, oder? Ja, das war mutig, wurde aber von ihnen vielleicht gar nicht so empfunden. Denn sie hatten vielleicht nur eine andere, für sie viel präsentere Furcht. Der mussten sie innerlich folgen. Die hier können uns den Leib töten, aber es ist eine viel größere Sorge: Unser Leib und unsere Seele sind in Gefahr! In einem Psalm heißt es: „Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit, alle, die danach leben, sind klug!“
In der Lesung hören wir heute einige Worte aus dem Propheten Jeremia. Kaum ein anderer wurde so angefeindet wie er. Aber er hat doch verkündet, was ihm aufgetragen worden war von Gott. „Ich hörte die Verleumdung der Vielen; Grauen ringsum! Zeigt ihn an! Wir wollen ihn anzeigen. Meine nächsten Bekannten warten alle darauf, dass ich stürze.“ Wer anderen nicht nach dem Mund redet, vielleicht sogar die Kreise stört, anderen den Leumund oder Vorteile nimmt, der kann sich auf was gefasst machen. Woher soll man die Kraft haben, so prophetisch zu sein? Aus der eigenen Familie heraus? Das ist ein gangbarer Weg. Aber manche Familie wurde mit Druck und Gewalt (wenn auch vielleicht „nur“ seelischer) Gewalt zusammen gehalten. Wie grausam kann allein schon Liebesentzug sein. Sehr oft wurde das alles auch noch überschrieben damit, dass es so die Ordnung Gottes sei. „Wenn der Vater nach Hause kommt, dann wirst du sehen!“, sagte die Mutter. Und die ganze Zeit hat man voller Angst gewartet, bis der Vater kam. Und genau so ist das, wenn der Vater im Himmel kommt: Warte nur! „Wurde“ ist deshalb formuliert, weil sich vielfach die geschlossenen Familienverbünde aufgelöst haben. Wer aber in seiner Familie nicht viel anderes gelernt hat, immer mit Angst dirigiert wurde und dressiert, wie soll der anders leben als angepasst. Viele in meiner Generation haben sich gegen die eigenen Eltern aufgelehnt und der Kirche den Rücken gekehrt, die man als Garant dieser „Ordnung“ gesehen hat. Und das wurde als Befreiung erfahren. Gott sei Dank hatten wir einen Pfarrer, der seiner Gemeinde zugerufen hat, dass die Jugend vielleicht etwas prophetisches hätte und man sie ernst nehmen müsse. Angst machen, einschüchtern …, dieselben Muster gibt es in der Firma, der Chef macht Druck. Vielleicht kommt er ja aus so einer Grunderfahrung und nun ist er selber „oben“! Und dann gibt es auch noch diejenigen, die sich auf der Seite der Guten wissen und moralisch Druck machen. Heute ist es in den Familien vielfach anders: Im Pendelschlag zu früher wird heute den Kindern nichts abverlangt, sie werden in Watte gewickelt und es wird ihnen alles abgenommen. Doch wie soll sich so jemand schützen, wenn er irgendwann keine Watte um sich hat, er muss immer für Watte sorgen und möglichst ohne Anstrengung möglichst viel abschöpfen, aus Angst!
Beim Propheten Jeremia gibt es eine Grundeinsicht. Er wusste: „Der Herr steht mir bei wie ein gewaltiger Held. Darum straucheln meine Verfolger und können nicht überwältigen!“
Ein gewaltiger Held? Das Evangelium dreht in eine etwas andere Richtung. Dort wird darauf verwiesen, dass es jemand gibt, der alles in seinen Händen hat. Kein noch so kleiner Spatz fällt zur Erde „ohne den Willen eures Vaters!“ Und: „Bei euch sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt! Fürchtet euch also nicht!“ Der Erfahrung von Angst wird eine viel grundlegendere von Geborgenheit gegenübergestellt. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Jesus hier sein Lieblingswort „ABBA“ Vater einbringt. Aber er meint einen anderen Vater! Ich habe gelernt, beim Gebet des Vater Unser“ das Wort „unser“ zunächst als mit Jesus gemeinsam zu sprechen. Der Vater, der da gemeint ist, ist zunächst sein Vater. Der, der Leib und Seele in das Feuer der Hölle stürzen kann, ist dieser Vater. Fürchtet euch also nicht. An Jesus kann man ablesen, dass wir diesem Vater bedingungslos vertrauen können. In seiner Urform ist das Wort „Vater“ eine ganz ursprüngliche Erfahrung des kleinen Kindes. Liebe und Macht sind kein Gegensatz! Im ersten Johannesbrief sind wichtige Worte formuliert: „Furcht gibt es keine in der Liebe, denn die Liebe vertreibt alle Furcht!“ Man muss sich nur die Frage stellen, ob etwas wertvoll ist, wenn es jemand aus Angst tut. Ist es nicht, selbst wenn es objektiv eine gute Tat ist. Gott will uns nicht mit Angst leiten, er will uns zur Liebe befreien. Ihr seid mehr wert als viele Spatzen! Du musst keine Angst haben, übersehen zu werden, Du bist angesehen von Gott. Wenn er auf mich sieht?!, das prägt ein tiefes Selbstbewusstsein ein. Und gibt Widerstandskraft gegen Druck, Androhungen und Verführungen. Die Kinder der Familie Scholl, Hans, Sophie und die anderen waren zunächst ganz begeistert von der Hitlerjugend. Als sie sich bei ihrem Vater beklagten, dass er ihre Begeisterung nicht teilen kann und ihnen ihre Freude daran nehmen will, hat der Vater gesagt: „Ich möchte doch nur, dass ihr gerade und frei durchs Leben geht!“ Das alles hat mit unserer Gottesvorstellung zu tun. Wenn ich mir Gott so groß vorstelle, dass er uns frei werden lässt, dass er seine Größe nicht darüber definiert, dass er uns klein macht, dass er sagt: „Ich möchte, dass ihr gerade und frei durchs Leben geht!“ Furcht ist dann nur, das kostbare Gut Freiheit sich nicht nehmen zu lassen. Das Evangelium nennt das „die Seele verlieren“. Frei sein. Ich habe mal den Satz gelesen: Wer um seinen wahren Wert weiß, gibt sich bedenkenlos preis. Bleibt nur der letzte Satz des Evangeliums, wo Jesus sagt, dass er zu dem bekennen wird, der sich zu ihm bekennt, aber den verleugnen wird, der ihn verleugnet. Ich habe das lange nicht gemocht, weil es mir so vorkam, als würde hier durch die Hintertür doch wieder die Angst ins Spiel kommen. Jetzt glaube ich, dass damit gemeint ist, dass wir wertgeschätzt und darin in unseren Entscheidungen und Haltungen ernstgenommen werden. Ich schlucke einen Moment, aber ich weiß, dass ich nichts anderes will!