Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit 2021
von unserem Pfarrer Christian Vornewald
„Na, Herr Pfarrer, allet jut mit Ihren Schäfchen?“ Ja, natürlich, alles bestens, nur manchmal sind sie etwas bockig. Solche Fragen gibt es tatsächlich, aber eigentlich nur von Leuten, die sonst mit Kirche keinerlei Erfahrungen haben und irgendwann mal, etwa beim Neujahrsempfang des Bürgermeisters mit dem katholischen Pfarrer zusammenstehen in einer typischen Small Talk Situation. Was soll man auch sonst mit dem reden? Bloß, was soll ich darauf antworten? Am besten nichts von Belang, denn sonst rutschen wir aus dem Small Talk heraus und das hat was peinliches, weil es meinen Gesprächspartner in eine große Unsicherheit führt. Aber das gerade das zur Sprache kommt in solchen Situationen, gar nicht böse gemeint. Ich finde das peinlich für uns.
Aber überhaupt, das mit dem Hirten und seinen Schäfchen hat viel Potential, peinlich zu sein. Als ich als Studentenpfarrer für die große alte Stadtkirche St. Petri zuständig war, wollten einige Studenten für die Wiese an der Seite der Kirche lebendige Rasenmäher anschaffen. Es war auch schon der Stall konzipiert, aber dann haben wir herausbekommen, dass Nutztierhaltung im Stadtbereich verboten ist. Schade, denn man stelle sich vor, wie am Sonntagmorgen während des Gottesdienstes es durch die riesigen undichten Fenster geschallt hätte: Bäääh … und alle hätten sich gesagt: Das sind wir.
Aber anders herum ist es auch peinlich: Ich soll der Hirte sein? Und alle anderen Leute traben fraglos hinterher, der wird es schon wissen. Wenn überhaupt, dann könnte man das Bild vom Hirten für Gott brauchen. Mir ist das peinlich. Als ich mit dem Fahrrad durch Rumänien gekommen bin, habe ich in einem Tal gesehen, wie ein Ziegenbock mit Glocke vorauslief und die ganze Schafherde hinterher. Der Hirte ging locker dahinter. Dieser Ziegenbock, das könnte ich vielleicht sein? Ach nee, das mit der Glocke wäre eher nicht meins. In meiner Heimat gab es früher jedes Jahr ein großes Fest aller Schäfer und einer sang jedes Jahr das Lied, wo es heißt: „Und der Hund, das treue Tier, ist bei Tag und Nacht bei mir!“ Der Hund, das wäre doch was für mich. Aber der muss die Schafe in der Spur halten und dafür beißt er sie ins Hinterteil. Wäre nicht schlecht, aber passt auch nicht.
Wenn wir uns von dem Bild einer Kirche verabschieden, die man mit dem Pfarrer und seinen Schäfchen verbindet, dann sollte man vielleicht auch gleich das ganze Gleichnis vom guten Hirten und den Schafen als mindestens missverständlich oder sogar peinlich hinter uns lassen. Zumal es ja praktisch keine Schäfer mehr gibt. Es stammt aus einer anderen Zeit. Nicht nur, weil es den Sitz im Leben verloren hat, sondern auch soziologisch. Wir leben heute nicht mehr so, wie es das Bild suggeriert.
Aber jedes Jahr am vierten Sonntag der Osterzeit gibt es den Sonntag vom guten Hirten. Jesus, von den Toten auferstanden, geht uns voraus zur guten Weide, zu den Quellen des Lebens, ist wohl der Gedanke. Und aus dem großen Ballast von Vorstellungen, die sich angesammelt haben in Jahrhunderten, quälen wir uns heute mit dieser herum. Obwohl es eigentlich für alle peinlich ist?! Das macht man aber so.
Bloß, wenn wir das alles wegwerfen, und das ist dringend nötig, wenn man sieht, was manche der sogenannten Hirten mit ihrer Macht angestellt haben, was bleibt dann übrig? Wollen nicht manche an all dem Alten festhalten, weil es sonst leer wird in der Kirche? Und dieses so fraglos mitgemachte kann man zwar nicht ganz für voll nehmen, aber es gibt eine Beheimatung. Und genau die wird gesucht in der Kirche. Und wenn das alles genommen wird, kein Pfarrer mehr da … was bleibt dann? Das ist doch das Ende, oder? Wie Mehltau liegt diese Angst über unseren älter werden Gemeinden.
Nein, ich will nicht der Hirte sein und ich werde versuchen, die Erwartungen, es doch zu sein, nicht zu erfüllen. Ich kann das nicht. Aber die Leere, die entsteht? Das ist wie es ist. In der Osterzeit wird in den Gottesdiensten aus der Apostelgeschichte gelesen. Da wird an einer Stelle erzählt, wie der Hohe Rat über die neue Bewegung berät. Da gibt einer der Ältesten den Rat: Wenn es nicht von Gott ist, dann wird es vergehen, wenn es von Gott, dann könnt ihr es nicht zerstören. Genau das ist Glaube: Wenn es von Gott ist, dann, wenn nicht, dann ist es sogar gut, wenn es vergeht, weil da Menschen im Namen Gottes auftreten, was gar nicht stimmt. Das macht alles nur schlimmer! Das ist Glauben! Aber die Leere?
Wenn es von Gott ist, dann wird sich die Leere füllen. Was bleibt uns: Aushalten! Warten! Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, meinem Gott und Retter, auf den ich schaue! So heißt es in den Psalmen. Es sollte uns das erste Anliegen sein, dass er die Leere füllt. Kleine Einsichten können Türen öffnen, wir hören einander zu, und so kann aus der Leere Fülle werden. Dazu braucht es die Einsicht von jeder und jedem, Gott spricht zu uns allen! Also ist der angemessene Umgang mit der Leere nicht Angst, sondern Vertrauen. Dann können die alten Gleichnisse neu sprechen, kann Gott in ihnen einen Zugang in unser Leben finden, kann zu uns sprechen, uns trösten, stärken, aufrichten, Wege aufzeigen, uns befreien. Und das auch in der Leere, die die Pandemie mit sich bringt.
Und ich, der Pfarrer? Wenn ich meine Rolle mit den Worten des Hirtengleichnisses beschreiben soll, dann vielleicht mit einem Gebet von Saint Exupery: Leih mir ein Stück von Deinem Hirtenmantel.
Darum freue ich mich, mitzuteilen, mit Euch zu teilen, was sich mir erschlossen hat in der Rede vom Guten Hirten. Es gibt einen faszinierenden Schlüssel, um den Text hören zu können. Ich bin überzeugt, dass es so gemeint ist: Das Land Palästina, in dem der Vergleich geboren ist, ist vor allem ein Wüstengebiet. Bis heute ist es so, dass die Schafherden sehr klein ist. Es gibt nur sehr wenige Wasserstellen. Dort kommen oft mehrere Herden zusammen. Der Hirte einer Herde muss sich keine Sorge machen, Schafe zu verlieren. Denn die Schafe haben eine faszinierende Eigenschaft, sie können Stimmen unterscheiden. Wenn er sie ruft, werden die eigenen Schafe auf seine Stimme hören und folgen.
Und was die Schafe vielleicht naturhaft tun, das sollen die, die an ihn glauben, aus der Einsicht in ihn tun. Es geht ihm wirklich um sie, bis zur Lebenshingabe, sie werden nicht betrogen. Es besteht eine Vertrautheit zwischen ihm und uns. „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ Und Jesus baut uns eine wunderbare Brücke: „ … wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne!“ Es geht also um Einsicht, die im Glauben zu finden ist, es geht um eine Unterscheidung, die bei so vielen Stimmen und Verlockungen und Angeboten gelernt werden kann. Darum ist das erste und Wichtigste, mit ihm vertraut zu sein, Erfahrungen mit ihm zu machen, wie gut das tut, wenn er in unserem Leben da ist. Wer meint es wirklich gut mit uns, wo kann ich guten Gewissens mich fallen lassen und vertrauen? Dieses Fallenlassen bedeutet Lieben und ist darum tiefste Selbstverwirklichung! Die Gemeinschaft, die in einem solchen Suchen und Fragen entsteht, wo wir miteinander Erfahrungen machen dürfen, das ist die Gemeinschaft der Glaubenden, das ist die Kirche. Aber Gott geht es nie um die Kirche und ihren Bestand, ihm geht es immer um die Menschen: Deshalb ist es so schön, dass sich durch die ganze Erzählung vom Hirten ein Aspekt durchzieht: Die Schafe werden von ihm umworben, er will, dass wir uns frei entscheiden, ganz freiwillig mit ihm zu gehen, aus Liebe. Ich weiß nichts besseres für mein Leben!