Predigt zum 20.09.2020
von unserem Pfarrer Vornewald
Der kleine Tobias hat mir leid getan. Bei der religiösen Kinderwoche saßen alle Kinder vergnügt am Tisch beim Abendessen, nur er hatte sich abseits gesetzt und kriegte keinen Bissen runter. Niemand kam an ihn ran, er musste ganz alleine durch. Vorher hatten die Jungen Fußball gespielt und sein jüngerer Bruder hatte mehr Tore geschossen als er. Man lächelt, wenn man sowas hört, aber für ihn war das toternst. War es Angst um seinen Platz als großer Bruder, ich bin doch größer und stärker, war es Neid, irgendwie Ausdruck der täglichen Verteilungskämpfe, er hatte verloren … Inzwischen ist er erwachsen und ein ausgeglichener junger Mann, der sich gut versteht mit seinem Bruder. Trotzdem glaube ich, dass solche Gefühle, die so tief gehen, dass man sie kaum steuern kann, auch in Erwachsenen wirken. Oder sind Sie frei von Neid, gibt es nicht doch auch bei Dir die Angst, zu kurz zu kommen und sich als Versagerin oder Versager zu fühlen. Was alles hängt im Kleiderschrank oder steht in der Garage oder auf dem Fensterbrett oder sonstwo, damit es dazu erst gar nicht kommt? Der Kampf um die besten Plätze oder das Ansehen, der findet auf allerlei Weise statt.Und ganz verborgen findet er immer wieder seinen Weg in unser Herz. Erwachsene können die damit verbundenen Gefühle vielleicht besser verbergen, aber ich glaube, sie können sie genauso wenig kontrollieren wie die Kinder. Man kann die Empörung gut verstehen, die die Arbeiter empfinden, die auch nur einen Denar bekommen, obwohl sie viel länger gearbeitet haben als die anderen: „Wir aber haben die Last des Tages und die Hitze ertragen!“ Diese Geschichte hat lange zu denen gehört, die ich erstmal liegen gelassen habe in der Hoffnung, sie vielleicht später mal zu verstehen. Meine Mutter hatte drei Stellen im Evangelium, die ihr nicht eingeleuchtet haben, eine davon war diese. Im Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Philippi, wir haben das gerade gehört, werden wir aufgefordert: „Vor allem: Lebt als Gemeinde so, wie es dem Evangelium Christi entspricht!“ Wie soll das gehen, wenn dies das Evangelium ist? Was man als erstes wissen muss zum Verstehen dieses Gleichnisses ist, dass es mit einem Denar eine besondere Bewandnis hatte: Er war der Wert, der angesetzt für das, was man braucht, um einen Tag zu leben. Also bekommt jeder, der im Weinberg gearbeitet hat, das, was er braucht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und es war ja genau so mit den Arbeitern vereinbart worden. Also ist zunächst einmal festzuhalten, der Gutsbesitzer handelt anständig, er hält sich an das, was er ausgehandelt hatte. Also gibt es eigentlich keinen Grund zur Klage! Alle bekommen, was sie verdient haben. Trotzdem ist es offensichtlich ungerecht. Die einen haben dafür elf Stunden gearbeitet, die anderen eine Stunde. Die einen gehen völlig erschöpft und abgearbeitet nach Hause, die anderen sind gar nicht richtig schmutzig geworden… Vielleicht ist es ja so, dass die Situation extra so gesetzt worden, um etwas deutlich zu machen, um tiefsitzende Ängste und latente Gefühle hochkommen zu lassen. Denn nur was ins eigene Bewusstsein tritt, kann be- und dann verarbeitet werden. Es fällt auf, dass der Gutsherr kein Mitleid mit denen hat, die murren. Wie ist das vereinbar mit dem Bild eines gütigen und gerechten Gottes? Wenn es Jesu so erzählt, dann kann man für sich daraus schließen, dass Mitleid ihnen wohl nicht hilft. Der, der dies erzählt, meint es wirklich gut mit uns, so wie der Gutsherr es gut meint mit allen, die in seinem Weinberg gearbeitet haben. Stimmt das? Mir ist eine Spur gezeigt worden. Eine Frau wurde kürzlich getauft. Auf die Frage, warum sie sich taufen lasse, antwortete sie: Ich glaube, dass Gott mich gefunden hat! Im Hohen Lied der Liebe (1 Kor. 13) geht es im weiteren Verlauf um Erkenntnis. „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angsicht. Jetzt erkenne ich nur unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie auch ich durch und durch erkannt worden bin.“ Ja, es ist schön, wenn jemand sagen kann, er habe Gott gefunden, aber das Schönste ist das Kommen Gottes in meinLeben. Ich glaube, dass Gott mich gefunden hat, sagte die Frau. Die Geschichte beginnt damit, dass der Gutsherr die Menschen anwirbt. Darf man da sagen: Er hat sie gefunden! Und es geht nicht um Leistung, das Entscheidende von Gott ist schon zuvor. Sie müssen es sich nicht verdienen, Gott sieht auf sie, es geschieht, wie man das früher nannte: aus Gnade. Und indem er sie in seinen Weinberg schickt, gibt er ihnen Anteil. Nicht „Ich habe gefunden!“, sondern: Er hat mich gefunden!“ Ich bin also nicht mehr verloren, vergessen, nutzlos, ich kann beitragen, ich bin Teil von etwas Großem. In dieser Wirklichkeit liegt auch die alte Frage verborgen, was denn glücklicher macht, geben oder nehmen. Nicht nur: Ich habe etwas gefunden, wofür es lohnt zu leben, nein Gott hat mich gefunden und schenkt es mir. Bei frommen Leuten ist es eine Floskel, dass ein Pfarrer im Weinberg des Herrn arbeitet. Mir ist irgendwann mal klar geworden, dass das bedeutet, an einem ganz wunderbaren Produkt mitzuarbeiten. Zumal ein Glas französischer Rotwein für mich einer der wirklich schönen Momente von Lebensfreude bedeutet. Ich darf mitmachen, dass Gott den Menschen seinen wunderbaren Wein schenken kann, dabei darf ich helfen. Wein steht für Freude, Lebensglück.Und wenn er Dich und mich angeworben hat, dann bringen wir uns ein mit unserer Kraft und mit unseren Fähigkeiten und Stärken. Du so und ich anders. Um wieviel besser ist das als das Rumstehen und Warten. Mir fällt ein, dass zur Zeit der Flutgefahr an der Elbe in Magdeburg die ach so faulen und nichtsnutzigen Jugendlichen hart gearbeitet haben, um die Sandsäcke zuschleppen. Und das ganz freiwillig. Sie wurden gebraucht – und waren da. Komm in meinen Weinberg! Natürlich hat der Eine mehr Kraft als der Andere, aber miteinander sind wir Teil eines großen Ganzen und jede und jeder von uns ist von Gott gefunden und darin einmalig und schön und liebenswert! Wer hat mehr geleistet? Irgendwie muss man da auch die Blickrichtung umdrehen. Nicht das eigene Finden oder hier Leisten, sondern das Gefundensein und die Teilhabe machen die Arbeit im Weinberg aus. Ist etwa jemand mehr gefunden als ein anderer? Also erhält jede und jeder von dem Besitzer des Weinbergs einen Denar, das, was sieoder er zum Leben braucht. Es liegt eine große Befreiung darin, dass man das, was dieser eineDenar bedeutet, nicht messen kann. Denn er bedeutet Zuwendung, Wahrgenommen sein, Liebe und darum alles. Ich habe also alles bekommen, mehr geht nicht. Und muss mich nicht mehr vergleichen, muss nicht mehr messen. Wenn ich es tue, dann fehlt mir ja noch was. Und rutsche in etwas ab, was im Neid endet. Und ich bin auf der Überholspur, unglücklich zu werden wie der kleine Tobias am Abendbrottisch. Das eigentliche Unglück besteht aber darin,wenn einer noch nicht gefunden wurde, nicht gebraucht wird und darum nicht dazu gehört. Und wenn ich mehr haben möchte als den einen Denar, dann glaube ich noch nicht, dass ich von Gott geliebt und angenommen bin und darum schon mehr habe, als ich durch noch so viele Denare bekommen könnte. Dann kann ich Dinge annehmen und lieben, wo ich im Vergleich mit anderen vielleicht zu kurz komme, schlechter bin oder es anscheinend schlechter habe. Sie sind dann kein Grund mehr, unglücklich zu sein, sondern Teil meines Wegs. Die Frau hatte geantwortet: Ich glaube, dass Gott mich gefunden hat!Der Gutsherr stellt die Frage: „Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will!“ Also ist dieses Gefundensein von Gott seine Freiheit, er tut es, weil er es will, weil er jede undjeden von uns will. Und wenn dieses unverdiente Glück meins ist, dann kann sich der Neid in mir in sein Gegenteil verkehren: Ich kann mich freuen und mitfreuen, kann anderen gönnen!